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Gedenkfeier in Erinnerung an die Zerstörung und Auslöschung der Gemeinde Tympaki

Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth

Claudia Roth, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, © Achim Melde, Bundestag

11.02.2018 - Rede

Bundestagsvizepräsidentin Roth: „Ich möchte um Entschuldigung bitten für das unbeschreibliche Unrecht, das den Menschen hier in Tympaki angetan wurde.“

Meine sehr geehrten Damen und Herren, werte Gäste.

„Il y a l'odeur du sang, Qui flotte sur ses rives, Et des pays meurtris, Comme autant de plaies vives.“

Mit diesen eindrücklichen, tief bewegenden Worten beschrieb einst Georges Moustaki, Sohn griechisch-jüdischer Eltern, die Wunden eines Mittelmeers, das im Laufe der Jahrhunderte schon viel zu viel Leid mit ansehen, ertragen, wegspülen musste. Und tief bewegt stehe auch ICH heute vor Ihnen, halte das Manuskript einer Rede in der Hand, die mir schwerer fällt als hunderte Weitere, die ich bereits gehalten habe. Ich bin gekommen, um mich zu verneigen, in großer Trauer, in ehrlichem Bedauern – insbesondere aber in vollem Bewusstsein des großzügigen Vertrauens, das Sie mir entgegenbringen, wenn ich an einem Ort wie Tympaki, an einem Tag wie dem heutigen zu Ihnen spreche.

Heute nämlich erinnern wir, zum ersten Mal gemeinsam, an die furchtbaren Ereignisse unter deutscher Herrschaft vor über 75 Jahren. Wir erinnern daran, was geschah, nachdem die Wehrmacht den Befehl aus Berlin erhalten hatte, Kreta zu einer Militärbasis, Tympaki zu einem Flughafen auszubauen – für die Fortsetzung des brutalen Krieges im Süden Griechenlands, im Mittelmeer, in Nordafrika. Ganz besonders aber erinnern wir an die vollständige Zerstörung jahrhundertealter Kulturlandschaften und Olivenhaine, an schrecklichste Zwangsarbeit und Vertreibung, letztlich an die Verwüstung und Auslöschung von ganz Tympaki – durch deutsche Soldaten, auf Befehl deutscher Generäle. Für mich ALS Deutsche ist der heutige Tag deshalb:

  • ein Tag der Trauer;
  • ein Tag des Gedenkens;
  • ein Tag tiefer Scham.

Ja, ich bin 1955 geboren; aber ich habe nicht die Gnade der späten Geburt. Die Geschichte von Tympaki ist auch MEINE Geschichte, ist Teil MEINER Biografie als Nachfahrin – und auch ICH trage die Verantwortung, die damaligen Verbrechen in dieser kleinen griechischen Stadt, auf dieser wunderschönen griechischen Insel nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. DAS aber setzt das Wissen und die Kenntnis dessen voraus, was damals tatsächlich geschah. Und an dieser Stelle möchte, ja MUSS ich ehrlich sein: Auch MIR war lange nicht bewusst, was unter deutscher Besatzung auf Kreta, was in Tympaki geschehen war. Den Gräueltaten und Verbrechen, die hier verübt wurden – den vielen Opfern, die deutsche Minen ja sogar noch bis in die 1950er-Jahre hinein gefordert haben – wurde in Deutschland bislang kaum Beachtung geschenkt. Allein die Tatsache, dass sich mehr als ein Drittel aller griechischen Märtyrerdörfer und -städte auf Kreta befinden, macht ja auf erschütternde Weise deutlich, wie groß das Leid der Menschen hier gewesen sein muss – gehört aber habe ich davon lange Zeit kaum etwas. Das ist ein schlimmes Versäumnis, das mich persönlich mit tiefer Bestürzung erfüllt. Ich schäme mich, dass das demokratische Deutschland – selbst, als es endlich begann, seine Vergangenheit aufzuarbeiten – nicht in der Lage war, diesem Ort und dem Geschehenen die gebührende Anerkennung zuteilwerden zu lassen.

Als Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages möchte ich deshalb tun, was längst hätte passieren müssen. Ich möchte bei Ihnen um Entschuldigung bitten. Ich möchte um Entschuldigung bitten für das unbeschreibliche Unrecht, das den Menschen hier in Tympaki, das den Menschen auf Kreta angetan wurde. Ich möchte um Entschuldigung bitten für die Gräueltaten der Nazis in der damaligen Zeit. Und ich möchte um Entschuldigung bitten für das laute Schweigen in all den langen Jahren, die folgten. Zugleich möchte ich aber auch „danke“ sagen. Ich möchte den Überlebenden danken, die ihre Geschichte erzählt, die nicht vergessen oder verdrängt haben. Ich möchte all den Menschen auf Kreta danken, die trotz der Grausamkeiten vor fast 80 Jahren stets an Versöhnung geglaubt haben – Versöhnung, wie ich sie hier und heute mit Ihnen gemeinsam leben und erleben darf. Aber ich möchte auch all jenen danken, die damals Widerstand geleistet haben. Selbst in den schlimmsten Stunden ließen sie sich nicht entmutigen, hielten dagegen, gaben nicht auf. Sie waren Hoffnung in hoffnungsloser Zeit; schenkten Würde in würdelosen Momenten; entzündeten Licht, als alles dunkel war. Vor allem aber weisen sie auch UNS den Weg. In einer Zeit nämlich, da Antisemitismus und Rassismus vielerorts erneut um sich greifen – in einer solchen Zeit müssen auch WIR: Widerstand leisten, Gesicht zeigen. Genau DAZU sind wir heute hier, wir alle gemeinsam, Griechen und Deutsche. An der Geburtsstätte der Europa finden wir zueinander, um ein grundlegend europäisches Versprechen zu erneuern:

Nie wieder darf es ein solches Verbrechen wie den Nationalsozialismus, nie wieder darf es die systematische Vernichtung von Menschenleben geben, nie wieder dürfen wir zulassen, dass Humanität, dass Zivilisation endet.

Das aber setzt voraus, dass wir uns erinnern – nicht rückwärtsgewandt, sondern in die Gegenwart, in die Zukunft – dass wir uns erinnern auch an die Zerstörung von Tympaki. Wir müssen dafür sorgen, dass das Gedenken an die Gräueltaten von Nazi-Deutschland in Griechenland eben NICHT auf Distomo, auf Kalavryta, auf Lingiades beschränkt bleibt – dass die Geschichte von Tympaki auch in Deutschland zu Allgemeinwissen wird, dass sie in unsere Lehrpläne einfließt, dass zum Beispiel auch Jugendaustauschprogramme entstehen. Und bei aller Schwere, bei aller tiefen Bedeutsamkeit des heutigen Tages:

Ich bin da hoffnungsfroh. Ich bin hoffnungsfroh – denn was haben wir schon alles erreicht in einem Europa, das aus ehemaligen Feinden zunächst Partner, aus Partnern dann Nachbarn, aus griechischen und deutschen Nachbarn doch längst Freunde gemacht hat. Ich bin hoffnungsfroh, dass es uns gelingen wird, dieses Europa, unser Europa der Demokratie und Menschenrechte zu stärken. Und ich bin hoffnungsfroh, dass wir es schaffen werden, innerhalb dieses vereinten Europas ein noch vertrauensvolleres, ein noch belastbareres Verhältnis zwischen Griechenland und Deutschland entstehen zu lassen – auf Augenhöhe, gleichberechtigt, in gegenseitigem Respekt. Lassen Sie uns deshalb am heutigen Tag ein gemeinsames Zeichen in dieses Europa senden. Lassen Sie uns gemeinsam die vielleicht wichtigste Lehre aus der europäischen, nicht zuletzt auch aus den schwärzesten Stunden der deutschen Geschichte ziehen – eine Lehre, die nicht ohne Grund den allerersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hervorgebracht hat. Darin heißt es:

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.

Eine solche Begegnung findet heute, hier in Tympaki statt. Sie findet statt, obwohl – nein, sie findet statt, WEIL uns allen bewusst ist:

Niemand kann die Vergangenheit ungeschehen machen. Solange aber Gemeinsames wie diese Gedenkstunde möglich ist, obsiegt nicht Zwietracht, sondern Menschlichkeit. Und eben DAS, dieses Primat der Humanität, ist so viel mehr als leise Hoffnung, ist so viel mehr als vorsichtige Bitte. An einem Tag wie heute wird dieses Primat der Humanität ein deutsch-griechisches Versprechen an die Zukunft. Ganz im Sinne von Georges Moustaki:

„Il reste un bel été, Qui ne craint pas l'automne, En Méditerranée.“

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