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Botschafter Ernst Reichel im Interview mit der griechischen Tageszeitung Kathimerini
Botschafter Ernst Reichel, © Deutsche Botschaft Athen
Botschafter Ernst Reichel im Interview mit Xenia Kounalaki in der Sonntagsausgabe der griechischen Tageszeitung Kathimerini.
Herr Botschafter, Sie waren in Polen für eine Dienstreise. Nachdem Sie in der Vergangenheit in der diplomatischen Vertretung in Kiew gedient haben, was hat Sie persönlich am meisten berührt?
Am meisten erschüttert mich das Schicksal der Menschen in Städten wie Mariupol, Charkiw oder Tschernihiw, die ich kenne und seinerzeit besucht habe. Straßen, in denen ich war, sind jetzt voller zerstörter Häuser. Die Menschen, die ich dort getroffen habe, sind in Luftschutzkellern oder geflüchtet, über das Schicksal der meisten weiß ich nichts. Es ist eine von Menschen gemachte, so sinnlose und durch nichts zu rechtfertigende Verwüstung. Während meines Einsatzes in Polen traf ich ukrainische Kolleginnen aus der deutschen Botschaft Kiew wieder, die es nach tagelanger, verzweifelter Flucht völlig erschöpft nach Polen geschafft hatten.
Haben Sie erwartet, dass Putin in die Ukraine einmarschiert?
Viele, mit denen ich während des langen Aufmarschs der russischen Truppen sprach, meinten, Russland werde nicht angreifen, das sei doch nicht rational. Ich habe dem stets widersprochen und gesagt: Wir wissen es nicht. Wir wissen nicht zuverlässig, in welcher Vorstellungswelt die wenigen Personen in Russland leben, die über Krieg oder Frieden entscheiden. Wir wissen nicht, ob die absurden Drohungen, Lügen und Theorien, die von ihnen geäußert werden, Einschüchterungstaktik sind oder ernst gemeint.
Inzwischen wissen wir mehr, aber weiterhin nicht genug. Wir haben jeden Grund, sehr misstrauisch zu sein.
Wie sehen Sie die Haltung der EU und des Westens im Allgemeinen? Glauben Sie, dass die Ukraine-Krise automatisch zur Konsolidierung der westlichen Seite geführt hat?
In Deutschland verwenden wir für den Schock, den der russische Angriffskrieg in der Ukraine ausgelöst hat, den Begriff „Zeitenwende“. Wir erleben ein historisches Verbrechen, das vieles für lange Zeit verändert. Eine neue Epoche beginnt, ohne dass wir das wollten. Wir können uns keine Illusionen mehr über die Machthaber in Moskau machen. Wenn Russland aus dem Angriff auf die gesamte Ukraine, den es grundlos begonnen hat, in irgendeiner Weise erfolgreich hervorgeht, müssen wir uns auf weitere Aggressionen einstellen, wo immer das Moskau chancenreich erscheint – und das russische Staatsfernsehen droht uns solche Aggressionen immer wieder an. Der entscheidende Beitrag, den unsere Länder leisten können, um das zu verhindern, ist westliche Einigkeit in NATO und EU, starke Sanktionen gegen Russland und massive materielle Unterstützung der Ukraine, nicht zuletzt durch Waffen. Bleibt Moskau erfolglos, dann ist das ein starkes Signal auch an andere potenzielle Aggressoren weltweit.
In Deutschland hat die Zeitenwende viele hergebrachte außenpolitische Positionen zum Einsturz gebracht. Wir haben dazugelernt und reagieren auf die neue Realität. Dasselbe lässt sich auch in Griechenland beobachten: Bis zum 24.2., dem Tag des russischen Angriffs, hat sich Griechenland nicht den USA, Deutschland und vielen anderen westlichen Staaten angeschlossen, die Russland in starken Worten vor einem Angriff warnten. Seit dem 24.2. sind wir aber in eindrucksvoller Weise einig und entschlossen. Ich bin überzeugt, damit hat Putin nicht gerechnet. Jetzt geht es darum, diese Geschlossenheit zu bewahren und dafür zu sorgen, dass die „Zeitenwende“ nicht nur von den Regierungen, sondern auch von den Bevölkerungen in ihren Konsequenzen verstanden wird.
Sie waren in Polen. Wie beurteilen Sie die Bewältigung der Flüchtlingswelle aus der Ukraine? Was halten Sie von der Kritik, dass Europa 2015 die Syrer total anders behandelt hat als heute die Ukrainer? Beobachten Sie die Leistung Griechenlands bei der Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge? Wenn ja, was ist ihre Ansicht?
Die Kritik, man habe in Europa Syrer abgelehnt, aber nehme jetzt Ukrainer auf, trifft nicht auf Europa insgesamt zu. Deutschland hat 2015 eine Million Flüchtlinge aufgenommen, die Hilfsbereitschaft war sehr groß. In osteuropäischen EU-Staaten wie Polen oder Ungarn war das anders. Heute trägt Polen die Hauptlast der Flüchtlingswelle. Den Anstrengungen, die Polen heute unternimmt, und der Hilfsbereitschaft der Menschen in Polen muss man den allergrößten Respekt zollen. Im Vergleich zu Ländern wie Polen, Moldau, Deutschland oder Rumänien haben bisher wenige Flüchtlinge Griechenland erreicht. Die Gastfreundschaft, für die Griechenland ja bekannt ist, hat mich aber sehr gefreut.
Für die nächsten Wochen und Monate müssen wir mit womöglich insgesamt 8 Millionen ukrainischen Flüchtlingen rechnen, also mehr als doppelt so vielen wie heute. Hier wird europäische Solidarität aller in der EU notwendig sein, und ich hoffe sehr, dass wir sie erleben werden.
Alle waren (positiv) überrascht von der Kursänderung Deutschlands nach dem russischen Einmarsch. Glauben Sie, dass es eine vollständige Energieabkopplung von Russland geben wird?
Eine sehr weitgehende Energieabkopplung ist auf jeden Fall sehr wahrscheinlich, denn eine Abhängigkeit von Russland können wir uns nicht mehr leisten. Die Frage ist eher, ob diese Abkopplung sofort, als Sanktion, kommt, oder allmählich im Verlauf einiger Jahre. Dabei müssen wir nicht nur an die Versorgungssicherheit und an die wirtschaftliche Resilienz Deutschlands denken, sondern an die der gesamten EU und aller Mitgliedstaaten. Und zwei Dinge entsprechen rationalem Handeln: Sanktionen dürfen den Staaten, die sie verhängen, nicht mehr schaden als dem Gegner. Und Sanktionen müssen über die Zeit durchhaltefähig sein, sonst wartet der sanktionierte Staat einfach ab, bis sie aufgehoben werden müssen.
Können Sie eine Einschätzung machen, wie dieser Konflikt enden wird?
Ich bin recht optimistisch, dass Russland in diesem Krieg und in der Auseinandersetzung mit den westlichen Staaten nicht gewinnen wird. Putin hat sich schwer verkalkuliert und die Verteidigungsbereitschaft und nationale Identifikation in der Ukraine vollkommen unterschätzt. Ebenso hat er die Bereitschaft der westlichen Staaten unterschätzt, ihm durch präzedenzlose Sanktionen entschlossen entgegenzutreten. Aber bis wir ein Ende sehen, wird es leider noch immenses Leid und immense Schäden geben. Und wir Europäer werden noch über längere Zeit einen großen Beitrag leisten müssen, damit die Opfer des ukrainischen Volks für seine Freiheit und seine Unabhängigkeit nicht vergebens sind.